Am Anfang war es kaum zu glauben. Es war so ... profan gewesen. Kein Anzeichen vorher, die Welt hörte nicht auf sich zu drehen, keine bemerkenswerten letzten Worte, nur ein Treffen und Cassiel war nicht mehr auf den Füßen. Es dauerte, bis sie nach ihm sehen konnte, selbst Esra war nicht direkt bei ihm gewesen. Der Kampf hatte sie getrennt. Und dann der Tod. Die Kämpfe waren ein Anzeichen ihres Erfolges. Sie hatten es geschafft,
soviele Menschen hinter sich zu bringen, zumindest für ihre Sachen
zu interessieren, dass sie hatten beginnen können, mit den Maschinen
wirklich Kontakt aufzunehmen. Sie hatte den Virus der Individualität
ausgesetzt und wurden langsam zu einer wirklichen Bedrohung, der die Maschinen
massiv versuchten Herr zu werden. Sie konnten seinen Körper bergen, aber es gab nichts mehr, was sie tun konnten. Die ganze Crew stand um die Leiche herum, sie starrten den blutüberströmten Körper an - und dann auf Esra, der selbst leichenblass war. Der Junge, der nicht mehr ganz so jung war, stand reglos, während Tamara, ihr neuestes Crewmitgied mit medizinischer Erfahrung, den Kapitän untersuchte - bis die Asiatin den Kopf schüttelte. Dann drehte er sich wortlos um - und verschwand in Cassiels Zimmer. Es dauerte Stunden, die ganze Nacht, ohne dass sie ein Lebenszeichen
ihre Kommunikationsoffiziers bekamen. Die Tür blieb zu. Keine Reaktion.
Die Crew hockte um den Tisch, niemand sprach, die Stimmung könnte
schlechter nicht sein. Die Blicke der anderen gingen zwischen den Tellern und Esra hin- und her. Der junge Mann griff sich seinen Löffel und begann von dem Essen in sich hinein zu schaffen. Nicht mal die jadegrüne Farbe konnte ihn aufmuntern. "Wir könnten..."; begann Tamara, aber ein Blick von Esra
ließ sie verstummen. Esra fragte nicht, er ließ nichts abstimmen. Er teilte den anderen
seine Wünsche und Pläne mit und wenn es keinen Widerstand gab,
dann sorgte er dafür, dass die Dinge erledigt wurden. Er hatte sich
nie nach einer Führungsrolle gedrängt, aber jetzt übernahm
er sie effizient - wenn sie ihm nicht von jemand der anderen "streitig"
gemacht wurde. Rio war ihnen verschlossen. Aber in Paris versuchte Esra einen jungen Mann zu treffen, mit dem er in KOntakt stand: Marcus sollte den freigewordenen Posten eines Programmierers übernehmen, denn er wollte nicht, dass alles in dieser Richtung auf Mori lastete. Was das andere anging, was Cassiel für Esra gewesen war außer
sein Kapitän, suchte er keinen Ersatz. Er ging selbst in Paris nicht
aus, obwohl Wochen vergangen waren. Dazu kam: Esra hatte keine freie Zeit. Er sorgte dafür: wenn es nichts gab, was von außen an ihn herangetragen wurde, dann trainierte er. In der Matrix, im Strom oder seine körperliche Fitness. Die anderen wussten, dass er krank war, aber sie konnten auch bemerken, dass er alles tat, um diese Schwäche einzudämmen, damit er die Aufgaben, die sich stellten, bewältigen zu können. Körperlich veränderte ihn das ebenfalls: auch wenn er zierlich
blieb, so wurde er doch kräftiger, unter der Haut lagen feste Mukeln,
er war von sehniger Schnelligkeit. Und er wurde auch immer treffsicherer.
Dabei schien ihn eine Aura der Unverwundbarkeit zu Vom Wesen her kam der charmante, jungenhafte Esra nie ganz zurück, aber es schien, als weigere er sich, bitter zu sein. Er hatte ein offene Ohr für alles, sorgte dafür, dass Wjala gut versorgt war, nachdem sie das Kind bekommen hatte (und er hielt sein Versprechen und stand ihr bei, als es soweit war). Väterlich benahm er sich dem Kind gegenüber nicht, mehr wie einer der lieben Onkel vom Schiff, wie die anderen auch. Allerdings versuchte er, soviel Geld wie er konnte, für Wjala zurückzulegen, von seinen Einkünften. Seine Einkünfte entsprachen genau dem, was die anderen auch an Salär bekamen. Da war er Gleicher unter Gleichen. Nachdem die Beutezüge weniger und die Kampf- und Rebellionseinsätze mehr geworden waren, versiegte eine Einnahmequelle für die Gehenna. Allerdings hatte Cassiel gut vorgesorgt und viel auf die hohe Kante gelegt und ihre wachsende Popularität führte dazu, dass sie für ihre Objekte mehr bekamen und für ihre Bedürfnisse weniger bezahlen mussten. Am Ende zahlten sie weder für Lager noch für Hafenplätze noch Geld und Cassiel hatte es noch erlebt, dass man ihnen Geld hatte zukommen lassen zur "Unterstützung der Friedensmission". Das war zum größten Teil Esras "Propaganda" (wie
er es selbst scherzhaft nannte) zu verdanken. "Die Sache" wurde
populärer und unter dem Namen "Gehenna-Kurs" bekannt. Einmal
in Kapstadt hatte Esra ein Erlebnis, dass dem "traumatischen"
Sitzenlasser in Paris genau entgegen gesetzt verlief: einige Mädchen
versuchen sich an ihn heranzumachen, nachdem sie gehört hatten, dass
er zur Crew des "Rebellenschiffes" gehörte. Und diese nutzen sie. Esra erarbeitete mit seinen Leuten, mit Hilfe von Chris und BQ, mit Hilfe aller, die ihm helfen wollten und konnten, logische Systeme aus, mit denen sie sogar Teile des Maschinenkonglomerats auf ihre Seite brachten. Die Welt veränderte sich. Am längsten dauerte es in Rio, das sogar einen Angriff auf die Rebellenflotte wagte (einen erfolglosen, auch wenn er bittere Verluste brachte) - und im amerasischen Netzwerk. Aber schließlich gab es Verhandlungen. Sie zogen sich hin, weil beide Seiten misstrauisch waren, weil beide Seiten unter einander uneinig waren. Es gab Rückschläge, Attentate, Verrat. Aber die Verhandlungsführer ließen nicht zu, dass es ein Misserfolg wurde. Am Ende wollte Esra nur drei Dinge für sich: Er wollte, dass ein
Programm Tims Körper übernahm, damit die Eltern wieder ein Kind
hätten. Ein lernfähiges Programm, dass aus dem Komapatienten
langsam wieder einen Menschen machte. Dieses Programm sollte mit den Strukturen
gefüttert werden, die Tims Persönlichkeit ausmachten, die Cassiel
vor langer Zeit extrahiert hatte. Und dann ... nahm der Pilz eine Auszeit, um nach Californien zu gehen |